www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Weihnachtsbaumkultur

Weihnachtsbäume, wenn ich dieses Wort nur höre, stellen sich mir schon sämtliche Nackenhaare auf. Weihnachtsbäume! Ich weiß nicht, wer diesen Schnickschnack erfunden haben mag, also ich hätte ihm das Patent dazu nicht unterschrieben, denn Weihnachtsbäume, das sage ich Ihnen, sind häßlich, ja häßlich, und schädlich dazu, jedes Jahr machen sie die Leute nervenkrank, brennen ihre Häuser ab, zerstören ihre Teppichböden, bevor sie sie abbrennen, zerstechen und verkleben die Wohnzim-mergarnitur, bevor sie in Flammen aufgeht, und für all das müssen unzählige Bäume in der freien Natur ihr unbeschwertes Leben lassen.
Und was ist der Sinn davon? Ist das Jesuskind etwa unter einem Weihnachtsbaum zur Welt gekommen? Nein? Sehen Sie. Und es heißt ja auch die Hirten auf dem Felde und nicht die Hirten im Walde oder gar die Hirten in der Weinachtsbaumkultur. Bäume gab’s da unten doch gar keine, und da kommen wir Mitteleuropäer an und hängen die Christkinder und Weihnachtssterne in einen Tannenbaum. Wenn’s denn wenigstens Tanne wäre! Nein, billige Fichte muss es sein, alles andere wächst zu langsam nach im Sommer, ökologisch betrachtet kann man dann auch gleich Plastik nehmen. Nein, also Weinachtsbäume, von diesem Wahn distanziere ich mich in aller Form – und meistens so bis kurz vor Heiligabend.
Dann macht mich meine Frau nicht mehr nur dezent, sondern energisch vorwursvoll darauf aufmerksam, dass es in unserem Wohnzimmer noch nicht die Bohne nach Weihnachten aussehe, und das, wo Nachbars doch schon seit Mitte September ihren Baum im Garten beleuchten, genauso wie den Gummibaum im Wintergarten und alles andere, was nicht weglaufen kann, die hervorgehobenen Hauskanten finde ich in diesem Zusammenhang immer besonders reizvoll, ich sag Ihnen, mir würde ein einziger 500-Watt-Strahler auch reichen, um nachts nicht schlafen zu können, da brauche ich keine drei Millionen Glühbirnen, eines Tages, aber das sagen Sie besser nicht weiter, da dreh ich ihm eine einzige Birne raus, und bis er die gefunden hat in dem Gewirr, ist Ostern vorbei!
Aber nein, alle Argumente werden weggewischt mit der Totschlagformel „Was sollen die Leute denken?“, und ich werde weggeschickt und darf nicht eher wiederkommen als ich nicht einen Baum unterm Arm habe.
Ich weiß nicht, wie sich meine Frau das vorstellt. Denn an Heiligmorgen sind die Bäume ja schon alle verkauft, zu unverschämten Preisen, nur Beppo, der steht immer noch da mit seinen Bohnenstangen und denkt, es ist Frühling, die Leute kaufen für den Garten ein, aber er irrt, die Leute nehmen seine Stangen mit nach Hause und stecken Kerzen drauf.
Ich stehe dann immer davor, verziehe das Gesicht, kratze mich am Kopf, schüttle denselben, schau mir den nächsten an, das so lange, bis Glatze und Schleudertrauma sich einstellen, dann gestehe ich mir ein, dass das Totschlagargument „Was sollen die Leute denken“ auch mich ergriffen hat und ergo Beppos Bäume zumindest für unser wertes Haus nicht in Frage kommen.
Ich sehe mich daraufhin in allen anderen Teilen der Stadt nach weiteren Beppos um und finde keine mehr. In guten Jahren entdecke ich wenigstens meinen jungenhaften Abenteuersinn in mir, steige ins Auto, fahre in nächsten größeren Wald, suche und finde einen Baum, der dem Totschlagargument gerecht wird, mache ihn mit großer Freude um, denn im Grunde gebe ich damit ja nur meinem Protest gegen Bäume und die ganze Kultur drumrum Ausdruck, fahre nach Hause und bin über die Weihnachtstage ein Star, ein mit liebevollem Spott überhäufter zwar, aber dennoch.
In schlechten Jahren kann ich meinen Abenteuersinn nicht finden, ist mir der Weg in den Wald zu weit, und ich bediene mich auf dem Friedhof. Da ist es ganz einfach, da die Bäume nie richtig anwachsen. Allerdings ist der Effekt im Vergleich mit der Variante Wald nicht annähernd der selbe. Ich kann mich zunächst zwei Wochen zu Hause nicht mehr blicken lassen. Danach ziehe ich mit meiner Familie um.
Nur die Nachbarn, die bleiben immer die selben, und damit auch das Argument. Daher habe ich mal auf meine Frau gehört, sogar als sie noch etwas leiser protestierte, so Anfang Dezember, und bin gleich los, um einen standesgemäßen Baum aufzutreiben – mit dem Ergebnis, dass er bis Heiligabend exakt die selbe äußere Erscheinung besaß wie die Stangen, die Beppo vertrieb, denn Nadeln halten sich vornehmlich an die Schwerkraft und erst in zweiter Linie an mitteleuropäische Terminkalender.
Das Weihnachten war in etwa so trist wie die vor unseren Umzügen, mit dem Unterschied, dass die Schuldfrage diffuser war, daher nicht zu klären, was die ganze Familie zermürbte.
Aber ich will nicht jammern, denn aus Fehlern lernt man, lassen Sie sich das gesagt sein, denn schon im Jahr darauf haben wir alles richtig gemacht. Ich kaufte sowohl einen Baum als auch so ein schmieriges bläuliches Mittelchen mit viel Chemie drin. Das soll Bäume haltbar machen, nein, nicht einfach Klebstoff, gefährlicher, Klebstoff äzt keine Teppichböden weg. Auf jeden Fall habe ich jeden Tag kräftig gesprüht, und wenn dann mal doch eine Nadel abgefallen ist, hab ich noch kräftiger gesprüht, dann vielleicht zwei oder drei Mal am Tag, dann habe ich ein paar neue Fläschchen gekauft und mit der Zeit noch häufiger gesprüht, denn der Baum wurde ja nicht jünger, klar, und was soll ich Ihnen sagen, an Heiligabend hatten wir einen Baum wie im Traum! Blau-metallic leuchtete er die ganze Wohnung aus, ohne dass man auch nur eine Kerze anzünden musste, Lametta konnten wir uns auch sparen, der Nachbar erbleichte und meine Frau fiel mir um den Hals und frohlockte: „Eine Blautanne, endlich eine Blautanne, das habe ich mir immer so sehnlich gewünscht.“
Aber das Beste, Sie werden es gar nicht glauben, das Beste ist: Wir kriegen den Baum nicht mehr aus dem Wohnzimmer raus. Festgeklebt! Angewachsen! Ich mein, was soll’s, halten tut der jetzt eh länger als wir alle leben, und ich, ich kann mir endlich, endlich meinen Hass auf die Weihnachtsbaumkultur sparen, wenn es auf Heiligabend zu geht.
Nun, das wollte ich Ihnen eigentlich nur kurz sagen, Herr, äh, Weihnachtsbaumentsorger, das ist also der Grund, warum wir dieses Jahr keinen Baum mitgeben können, nicht dass Sie denken...