www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Wohnheimgemeinschaft

Die Uni Dortmund hat das modernste Computer-System aller Europäischer Unis, sagt man. Das muß auch so sein. Sonst könnte die Uni nicht mehr mit ihren Studenten reden.
Bevor ich hier einzog, hatte ich mir das Wohheimleben ungemein kommunikativ vorgestellt: harmonisch beim gemeinsamen Frühstück sitzen, gemeinsam Einkäufe erledigen, in Gruppen Mittagessen kochen, zusammen die Abende verbringen, nie ins Bett gehen und morgens fit aufstehen.
Als ich aber am Mittag des 9. Oktobers das Wohnheim zum ersten Mal betrat, blickte ich einen kargen Gang mit anonymen Türen. Es herrschte eisiges Schweigen - und keine Menschenseele war zu erahnen. Ich richtete mein Zimmer ein und sagte danach meinen Stockgenossen Hallo. Das heißt, ich versuchte es.
Ich klopfte an die Türen, doch nichts tat sich. Nach langer, langer Zeit und heftigem Dagegenpoltern öffnete einer, schaute mir verstohlen ins Gesicht und sagte nur: „Bist Du schon im Netz?“
Ich wußte nicht, was er damit meinte. Jedoch wiederholte sich diese Szene jedesmal, wenn ich zufällig einen Mitbewohner auf dem Gang sah: langes Schweigen, verstohlener Blick. Dann: „Bist Du schon im Netz?“
Irgendwann durchschaute ich, daß es sich um ein Computernetz innerhalb des Wohnheims handelte und ließ mir einen Anschluß legen. Endlich konnte ich mich mit den anderen unterhalten.
In diesem Netz herrschte Fröhlichkeit und Emotion, wie ich sie niemals für möglich gehalten hätte angesichts der bleichen Niemande, die mir auf dem Flur dann und wann über den Weg liefen.
Über eingetippte warmherzige Begrüßungen nahmen mich die User (Fachbegriff für Netzler) auf:
    Cooles Icon!
    aoe?
    doko 2100
    c u l8er
Undsoweiter. Leider konnte ich anfangs ihre Sprache nicht sprechen. Was mich aber darüber hinwegtröstete, war die Tatsache, daß mir meine Nachbarn nun sogar ab und zu ein Lächeln schenkten:
    :-)
Ich war hingerissen von dieser modernen Methode der Kommunikation. Schon bald beherrschte ich nicht nur einfache Floskeln, sondern konnte auch Betonungen machen oder ironisch sein:
    I!
Auch für mein schwäbisches „Hä?“ gewöhnte ich mir das ruhrpöttisch-post-moderne Pendant an:
    ?
Schon bald brauchte ich gar nicht mehr aus meinem Zimmer gehen (Ich war froh, die Halbleichen nicht mehr sehen zu müssen) – Studieren ging via Internet, meine SimCity-Städte stellten Dortmund weit in den Schatten und die Fifa98-Fußballer kickten auch besser als meiner einer. Warum also noch aus dem Haus gehen?
Auch die Gemeinschaft, die ich suchte, fand ich nun – ich konnte via Netz gegen andere Fußballer antreten, und abends wurde – wie ich es mir gewünscht hatte – gemeinschaftlich Pizza bestellt (ohne daß ich freilich einen anderen Bewohner je zu Gesicht bekommen hätte).
Dieser Zustand des Glücks hätte ewig Bestand haben können. Wir waren – jeder für sich – rundum zufrieden und vergaßen dabei ganz, daß die anderen in Wirklichkeit gar nicht so aussahen wie ihre Icons (für Laien: das sind Symbole im Rechner (für ältere Laien: ein Rechner ist eine Weiterentwicklung der Rechenmaschine (für Mathematiker: eine Rechenmaschine ist das, was man braucht, um über eins hinaus zu rechnen))).
Dieser paradiesische Zustand hielt vier Tage. Dann ging dem ersten das Bier aus. Da es in Dortmund trotz enormer Absatzchancen keinen Bierservice gibt und auch die größten Cracks es noch nicht geschafft haben, Bier in Datenkolonnen mit null und eins umzuwandeln, mußte derjenige, dem der Lapsus passiert war, durchs Netz fragen:
 Wer hat Bierse für mich?
Und dann mußte er zu einem anderen ins Zimmer gehen, umdiese Bier(s)e zu bekommen, und da stellte er fest, daß er mit der Frage „Bist Du schon im Netz?“ nur unzureichend seinen Dank deutlich machen konnte. Und so kam es, daß er sich auf die Sprachform zurückbesann, die er als Kind gelernt hatte, und leise „Danke!“ sagte. Das machte so viel Spaß, daß er gleich bei dem anderen im Zimmer blieb und mit ihm gemeinsam Bier(s)e trank. Den ganzen Abend übten sie merkwürdige Laute, und schon stellte sich der erste Erfolg ein, man konnte sagen: „SSauffffennnn!“
Dieses Beispiel machte Schule, da auch den anderen nach und nach ihr Biervorrat zusammenschrumpfte, und so mußten sie immer häufiger Mitbewohner aufsuchen, die noch Bier hatten, und irgendwann kam sogar der revolutionäre Schritt, daß eine Gruppe sich zusammenschloß und nach Tagen der Isolation aufbrach, um die Umwelt neu zu erkunden – nach einem Supermarkt mit billigem Pils.
Das ist die Geschichte, was sich in meinem neuen Zuhause zur Zeit meines Einzugs abspielte. Und ich könnte wetten: Wäre ich nur wenige Wochen später eingezogen, ich hätte das Geschehen für normal erachtet.