www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum
Daß ich meinen Engel nicht alle Tage sehen kann,
das habe ich bereits im letzten Jahr gelernt. Damals – vielleicht erinnert
sich jemand an die Zeit der Enthaltsamkeit – dachte ich, die Grenze des
Erträglichen sei so gut wie erreicht. Inzwischen habe ich sie überrundet.
Seit dem Beginn meines Studiums kann ich über das
Gejammere aus der Zivizeit nur noch lachen. Jetzt erst weiß ich,
was Enthaltsamkeit heißt. Denn meine Beziehung über 514 Kilometer
hinweg macht arm (Bahn und Telefon), müde (Telefonieren ist nachts
günstiger), krank (nachts ist es kalt) und einsam (wer krank ist,
kann nicht telefonieren). Meine einzige Hoffnung ist die, daß ich
meinen Engel alle Schaltjahre einmal zu Gesicht bekomme. Dadurch vergeht
die Zeit subjektiv um einiges schneller. Mann denkt nur noch von Schaltjahr
zu Schaltjahr, nimmt die Zeit dazwischen gar nicht mehr wahr, und wundert
sich plötzlich über die ersten weißen Haare.
Letztes Wochenende war Schaltjahr. Und weil es ein besonderes
Schaltjahr war, traute sich mein Engel in den Pott und kam mich besuchen,
statt ich sie. Der Besuch kündigte sich dadurch an, daß ich
zunächst noch ärmer (längere Telefonate), noch müder,
noch kränker (Winter) und noch einsamer (weil immer irgendwann das
Telefonat zu Ende ist und sich der Hörer einfach schlechter küßt
als der Mund meines Engels) wurde. In solchen Notsituationen verfällt
der Mensch naturgemäß ins Träumen. Ich träumte davon,
wie ich die zwei Tage mit meinem Engel verbringen würde, was ich ihm
alles zeigen würde, was wir alles unternehmen würden, was wir
alles erleben würden, denn: Man muß die kurze gemeinsame Zeit
ja um so mehr nutzen, je kürzer sie ist.
Mein Engel kam tatsächlich, ich konnte mein Glück
kaum fassen. Aber nach einer kurzen sentimentalen Begrüßungsphase
erinnerte ich mich an meine Pflicht als Gastgeber. Nachdem mein Engel seine
Taschen in mein Zimmer geworfen hatte, zog ich ihn gleich wieder aus dem
Zimmer und zur S-Bahn. Dortmunds Nachtleben wartete. Kino, Kneipe, Disco,
Nightclub, Nachtbus. Nebenher erklärte ich meinem Engel alles, was
ich über Dortmund wußte, und als Raumplaner ist das ganz schön
viel.
Zwischen den Haltestellen Palmweide und Schönaustraße
mußte ich kurz Luft holen und mein Engel kam dazu, mir Hallo zu sagen.
„Hallo!“, entgegnete ich kurz und fuhr fort in meinem
Vortrag über Raummythen und die Bedeutung der Unionbrauerei für
die Entwicklung Dortmunds in der Zeit der Spätindustrialisierung zwischen
Februar 1892 und dem ersten sonnigen Dienstag im Mai 1893.
Besonders wertvoll sind in einer Beziehung die einfühlsamen
Gespräche kurz vor dem Einschlafen. Leider war ich dazu nicht in der
Lage, weil vom Gastgeben zu müde. Es war ohnehin schon 4:51 Uhr, als
wir ins Bett gingen, und um 5:00 Uhr wollten wir wieder raus.
Der Wecker radiote, und ich schnellte aus dem Bett. Mein
Engel war gerade dabei, sich den Schlafanzug anzuziehen.
Nach einem schnellen Frühstück brachen wir
auf ins Sauerland: Tagesausflug. Meine Freude über den intensiven
Tag übertrumpfte meine Müdigkeit. Während der zweistündigen
Zugfahrt und der anschließenden Wanderung und der anschließenden
Zugfahrt und der weiteren Wanderung und der anschließenden Heimfahrt
mit zwischenzeitlicher Wanderung referierte ich wortwörtlich die Ökologievorlesungen
Professor Finkes samt aller Kalauer. Wieder wurde ich nur einmal durch
meine Freundin unterbrochen, als sie sagte: „Nimmst Du mich überhaupt
wahr?“, oder so etwas ähnliches, ich war zu abgelenkt, um genau hinzuhören.
Mein Engel trinkt gerne eine gemütliche Tasse Tee.
Auch das hatte ich eingeplant, ehe wir zehneinhalb Minuten später
zu einer Radtour aufbrachen, danach das Stadion besichtigten, dann die
Uni, dann die Nordstadt, die Oststadt und die Südstadt, den Westfalenpark,
die Stadtbücherei, die Fußgängerzone, die Reinoldikirche
samt Kirchturm und den Weihnachtsmarkt.
Dann besichtigte ich noch den Hafen, die Weststadt, das
Kreuzviertel, die Industrieanlagen, einige Zechen und ging am Abend
ins Schauspielhaus. Der Platz neben mir war leer. Ich hatte meinen Engel
wohl im Trubel des Weihnachtsmarktes aus den Augen verloren.
Daher mußte ich auf der Heimfahrt eben einer wildfremden
Dame erzählen, was ich über Straßenbahnsysteme, Systemtechnik
im allgemeinen und die Welt im ganz allgemeinen wußte.
Auch am Sonntag zog ich mein Programm durch mit Kirche,
Kirche und Pizzaessen. Zum Abschied gab es noch einmal einen Tee. Ganz
Gentlemen, trug ich danach die Taschen meiner Freundin zur Bahn. Auf dem
Weg dorthin stiegen die Tränen in mir hoch, da ich noch nicht wahrhaben
wollte, daß das schöne gemeinsame Wochenende schon vorbei sein
sollte. Der IC fuhr ein, und es gab kein Entrinnen mehr vor dem Abschied.
Der allerdings gestaltete sich etwas merkwürdig – so ganz ohne die
zu Verabschiedende.