www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Zwetschgenflut

Das Klima auf der Schwäbischen Alb ist eher als rauh zu bezeichnen. Der Sommer 1997 aber brachte es dennoch mit sich, daß Schwaben von einer einzigartigen Zwetschgenflut überschwemmt wurde. Das Klima war einfach überall sehr gönnerisch. Einzige Ausnahme: in unserem Garten.
Es war September, als das Wunder geschah. Bäume brachen unter der Last ihrer Früchte zusammen, die Nachbarin buk jeden Tag einen Zwetschgenkuchen, und der Nachbar, der sich nie zuvor um seinen Garten geschert hatte, begann nun, in seinen dornigen Hecken so etwas  wie einen Zwetschgenbaum zu entdecken, den er mit großem Einsatz gewillt war abzuernten.
In diesen Tagen war es, als meine Mutter heim kam und die Zahl der Zwetschgen an unserem Baum verkündete: fünf. Wir konnten nicht fassen, was geschehen war. All die Jahre zuvor hatte der Baum uns treu mit besten Früchten versorgt, wir hatten es ihm mit liebevoller Pflege in harten Wintertagen und schwülen Sommernächten gedankt, und nun – wir fühlten uns betrogen.
Der Familienrat tagte und gab schnell eine Devise aus, um die Zukunft zu überleben: Nichts anmerken lassen! So zogen wir mit dem größten Korb, den wir im Keller finden konnten, in den Garten hinaus, um die Ernte einzuholen. Es war seltsam: Obwohl wir von unserem Baum sehr enttäuscht waren, wuchs in der Krise die Verbundenheit mit den wenigen Zwetschgen, die trotzdem alles getan hatten, um uns zu gefallen.
So sorgfältig wie dieses Jahr hatten wir uns noch nie um die blauen Früchte gekümmert. Bei jeder einzelnen Zwetschge berieten wir, wann der der richtige Zeitpunkt zum Ernten gekommen sein mochte. Emma, Lisa, Heidi und Gerlinde kamen gleich in den großen Korb, Lena ließen wir noch ein paar Tage hängen.
Es war üblich, daß wir unsere Zwetschgen auf dem Wochenmarkt verkauften, ehe wir den Rest für eigene Zwecke verarbeiteten. Um annähernd das selbe Ergebnis wie immer zu erzielen, mußten wir den Preis von 5,60 DM pro Kilo auf 39,90 DM anheben – pro Stück.
Für alle vier Zwetschgen malten wir Preisschilder, auf denen ihre individuellen Vorteile angepriesen waren. Etwa: „Lisa: Besonders zarte Haut, kaum Flecken, sonnengereift – 39,90 DM“
Die Leute hielten es für einen Scherz, stoppten kurz an unserem Stand, lachten und gingen weiter. Einem Touristen war der Scherz 39,90 DM wert. Er kaufte Gerlinde. Eine Woche später hatten wir keinen Erfolg mehr.
Nun kam der zweite Teil: Private Verarbeitung. Aus Heidi machten wir Konfitüre, aus Lisa Kompott, und Emma verarbeiteten wir zu Kuchen. Zugegeben: In diesem Jahr ließen Konfitüre, Kuchen und Kompott ihren charakteristischen Geschmack etwas vermissen, aber Traditionen sind seit jeher nicht für Geschmäcker geschaffen.
Wir warteten gerade auf Lena, um sie für ein Zwetschgendurcheinander zu gewinnen, als das Blatt sich wendete: Eine Nachbarin hatte offensichtlich Wind bekommen von unserer spärlichen Ausbeute und brachte uns einen großen Korb voll Zwetschgen vorbei. Wir sagten natürlich: „Ach, das wäre aber nun wirklich nicht nötig gewesen!“, und stürtzten uns im selben Augenblick auf die saftigen Früchte. Der Zwetschgenherbst begann – und Lena konnte noch ein wenig reifen. Jetzt gab es wieder all das, was wir gewohnt waren zu essen. Viel Konfitüre. Viel Kompott. Viel Kuchen.
Nun ergab es sich so, daß die anderen Nachbarinnen in ihrer Hilfsbereitschaft nicht nachstehen wollten, und schon bald stapelten sich in unserem Keller die Zwetschgen. Wir wußten schon nicht mehr, wohin damit, und noch immer gab es Kuchen, Konfitüre und Kompott.
Nun ergab es sich aber weiterhin so, daß der Tourist, der uns scherzhaft die 39,90 DM-Zwetschge abgekauft hatte, Journalist war und einige Tage später einen Artikel schrieb, in dem unsere Zwetschgen als Deluxe- und Sammler-Zwetschgen angepriesen wurden. Nun war auf einmal Zwetschgensammeln in, und das Beste: Es galten nur unsere Früchte als besonders! Von einer Minute auf die andere rannten uns die Leute das Haus ein, überboten sich im Preis für eine Zwetschge, die Nachbarn kauften ihre eigenen Zwetschgen zurück, und wir saßen nur noch da und ließen uns Namen einfallen, 2371 an der Zahl. Als Gottliebin für 85 DM verkauft war, hatte der Spuk ein Ende. Und die ganze Familie schwelgte im Glück. Da gingen wir noch einmal in den Garten zu unserem glücksbringenden Baum, und was mußten wir sehen: Lena war runtergefallen! Faulige Flecken entstellten ihre Haut. Was hatten wir getan! Wir hatten wir das zulassen können? Das Geld hatte uns völlig den Kopf verdreht. Zutiefst betroffen saßen wir im Kreis um Lena, unsere tapfere Zwetschge, und ließen ihr ihre letzte Ehre zukommen. Wir hatten sie verraten.